Leben mit Legasthenie und Rechenstörung: Wenn Buchstaben und Zahlen zur Qual werden

Wenn Kinder Lesen und Schreiben lernen, ist die Schrift für sie am Anfang ein unverständlicher Code, bestehend aus vielen unbekannten Symbolen. Schritt für Schritt wird dieser Code im ersten Schuljahr entziffert und verinnerlicht. Für manche Kinder aber bleibt dieser Code nahezu unentwirrbar oder er ist nur mit einem enormen Lernaufwand zu bewältigen. So ist es bei Kindern, die eine Legasthenie, also eine Lese- und Rechtschreibstörung haben.

Melina, 27, aus Kiel, ist Legasthenikerin. In der dritten Klasse wurde die Lese- und Rechtschreibstörung bei ihr diagnostiziert. „Ich merkte, dass mir das Vorlesen vor der Klasse große Schwierigkeiten machte und ich die Wörter nicht flüssig lesen konnte. Gerne hätte ich auch bei Aufsätzen mehr geschrieben, jedoch benötige ich zum Schreiben mehr Zeit und musste mich deshalb kurz fassen, obwohl ich gerne geschrieben habe.“

Melinas Eltern wurden hellhörig, sprachen mit der Deutschlehrerin, doch die erkannte keine Defizite bei Melina. Trotzdem ließen ihre Eltern die Schwächen ihrer Tochter abklären. Die Diagnose war eindeutig: Lese- und Rechtschreibstörung. „Meine Mutter hat mit mir viel Lesen geübt und bald habe ich viele Bücher alleine gelesen und die Freude am Lesen entdeckt. Auf der weiterführenden Schule habe ich meine Stärken in naturwissenschaftliche Fächer eingebracht, da hier mehr Zahlen und Fachwissen im Vordergrund standen“, erzählt die Kielerin.

Diktate sind für Legastheniker:innen ganz besonders schwierig, da ein gesprochenes Wort in einen wenig greifbaren Code übersetzt werden muss. Foto: Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.

Legasthenie und Dyskalkulie – Was ist das?

Der Begriff „Legasthenie“ wurde 1916 als Synonym für Leseschwäche eingeführt. Heute werden unter dem Begriff nicht nur eine Lese- sondern auch eine Rechtschreibstörung verstanden. Dyskalkulie steht für eine Rechenstörung.

Jedes dritte Schulkind in Deutschland zeigt deutliche Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen. Bei etwa der Hälfte dieser Kinder bestehen die Schwierigkeiten so stark und andauernd, dass hier von einer Lernstörung, also einer Lese-, Rechtschreib-, oder Rechenstörung, gesprochen wird. 

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt eine Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) dann vor, wenn anhaltende und eindeutige Schwächen in dem Bereich nicht auf folgende Kriterien zurückgeführt werden können:

  • Entwicklungsalter
  • unterdurchschnittliche Intelligenz
  • fehlende Beschulung
  • psychische Erkrankung
  • Hirnschädigung
Bei einer Dyskalkulie haben Betroffene kein Gefühl für Mengen und Zahlen. Foto: Pixabay

Bei einer Dyskalkulie fehlt den Betroffenen ein Gefühl für Mengen, Maße und Zahlen, das jedoch für das Erlernen der Grundrechenarten zwingend notwendig ist. Die Wissenschaft geht davon aus, dass ein gewisses Mengenverständnis uns Menschen sogar angeboren ist. Kinder mit Dyskalkulie verstehen Zahlen aber oft nur als reines Symbol, nicht als Mengenangabe. Damit fehlen diesen Kindern wichtige Grundlagen, um die Lernschritte in der Mathematik zu verinnerlichen.

Wie kann ich abklären, ob es sich wirklich um eine Störung handelt?

Annette Höinghaus vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie (BVL), selbst Mutter zweier erwachsener Kinder mit einer Legasthenie, rät: „Wenn sich ein Kind trotz regelmäßiger Beschulung außergewöhnlich schwer tut, in einen guten Lesefluss zu kommen und sehr verlangsamt liest oder Probleme hat, selbst einfachste Rechenaufgaben zu lösen, dann sollte man aufmerksam werden und den Austausch mit der Schule suchen.“

Sollten Eltern und Lehrer:innen also etwas in die Richtung vermuten, gilt es eine Sensibilität für eventuelle Symptome einer Störung zu entwickeln. „Beim Rechtschreiben fällt auf, dass Kinder gleiche Wörter immer wieder unterschiedlich falsch schreiben, weil sie sich die Wortbilder nicht abspeichern können. Beim Rechnen ist auffällig, dass das Kind zählend rechnet […]. Es hat keine Idee, was hinter einer Zahl oder einer Menge steht und kann auch nicht einschätzen, ob z.B. eine 8 kleiner oder größer als eine 6 ist“, erklärt Annette Höinghaus.

Eine Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche muss aber keinesfalls auf eine Störung, also eine Legasthenie oder Dyskalkulie hinweisen. Letztere sind neurobiologische Störungen, bei denen die Synapsen im Gehirn nicht richtig zusammenspielen.

Wenn Lesen zur Qual wird. Foto: Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.

„Wenn Eltern vermuten, bei ihrem Kind könnte eine Legasthenie oder Dyskalkulie vorliegen, dann sollten sie ihr Kind möglichst frühzeitig bei einem Kinder- und Jugendpsychiater vorstellen, der eine umfassende Diagnostik durchführt, um zu klären, was die Ursachen für diese Lernschwierigkeiten sind“, so die Pressereferentin des Bundesverbandes. Ergänzend dazu sollten Eltern bei ihrer Kinderarztpraxis, sowie in einer Augen- und Ohrenarztpraxis vorstellig werden, um eine Hör- oder Sehbeeinträchtigung auszuschließen. „Erst wenn alles gründlich abgeklärt ist, dann kann auch die richtige Therapie erfolgen“, erläutert die Expertin aus Schleswig-Holstein.

„Die Diagnose Legasthenie hat mich entlastet“

Annette Höinghaus berichtet, dass viele Eltern sich scheuen, ihre Kinder einer Psychologin oder einem Psychologen vorzustellen. Manchmal aus Angst vor der Diagnose, aber auch aus Scham oder aus Furcht vor einer Stigmatisierung.

Für die Kinder ist es jedoch enorm wichtig, zu erfahren, dass sie nicht „dumm“ sind, dass ihre LRS oder Rechenstörung neurobiologisch bedingt ist, und sie somit nicht selbst verantwortlich für das vermeintlich schlechtere Abschneiden im jeweiligen Schulfach sind. Die Eltern können ihre Kinder so vor einer seelischen Bedrohung schützen, denn oftmals gehen mit dem Nicht-Wissen um die Störung psychosomatische Erkrankungen einher.

Melina hat durch ihre Diagnose erkannt, dass sie nicht Schuld daran war, dass sie beim Schreiben der immer gleichen Wörtern immer wieder andere Fehler machte. „Die Diagnose Legasthenie hat mich entlastet, da ich dadurch wusste, warum ich so viele Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hatte. Andere Schüler hatten diese Probleme ja nicht und mir war es deswegen unangenehm, etwas an die Tafel zu schreiben oder vorzulesen.“

Für Menschen mit Rechenschwäche sind Zahlen nur ungreifbare Symbole. Foto: Pixabay

„Unverantwortlich von der Bildungspolitik“

Im Bildungssystem finden nach Ansicht des BVL und der zuständigen Fachgesellschaften die Legasthenie und die Dyskalkulie noch immer zu wenig Anerkennung. „Es gibt eine längst fachlich überholte Empfehlung der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2003 bzw. 2007 zum Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen, die davon ausgeht, dass die Probleme bei der Legasthenie mit der 10. Klasse enden“, erzählt Annette Höinghaus. Dass eine neurobiologische Störung im Alter von etwa 16 Jahren nicht einfach so endet, dürfte auch jedem Nicht-Wissenschaftler klar sein. Die Rechenstörung findet wegen angeblich fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse überhaupt keine Beachtung im deutschen Bildungssystem.

Für die Dyskalkulie gibt es seit 2018 eine Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung, für die Legasthenie liegt diese bereits seit 2015 vor. Beide Empfehlungen haben jedoch bisher keinen Eingang in schulrechtliche Regelungen oder wenigstens in die schulischen Förderkonzepte der Länder gefunden. Für die Schleswig-Holsteinerin ist das fatal: „Das ist unverantwortlich von der Bildungspolitik, denn so werden viele Schülerinnen und Schüler in unserem Bildungssystem diskriminiert und erhalten keine Chancengleichheit.“

Melina sagt, sie habe viel ihren Eltern zu verdanken: „Meine Eltern waren immer sehr verständnisvoll und haben mich in meinen Stärken gefördert. Zusätzlich habe ich eine außerschulische Legasthenie-Förderung bekommen. Die Lehrer haben sich sehr unterschiedlich verhalten. Für einige existierte Legasthenie nicht und andere haben meine Stärken und mein Fachwissen geschätzt.“

Größere Herausforderungen durch die Corona-Pandemie

Schüler:innen, die eine Legasthenie oder Dyskalkulie haben, hatten besonders unter den Schulschließungen und dem Homeschooling während der Corona-Pandemie zu leiden. „Die Arbeitspakete, die den Schülern zur Verfügung gestellt wurden, erforderten eine gute Lesekompetenz, die insbesondere für Kinder mit einer Lesestörung eine große Herausforderung war“, erklärt Annette Höinghaus. Eltern sind in der Regel nicht pädagogisch ausgebildet und somit weniger in der Lage, ihrem Kind den Lernstoff zu vermitteln.

Gerade Kinder, die während der Pandemie eingeschult wurden oder einen Schulwechsel auf eine höhere Schule vollzogen haben, sind durch die Corona-bedingten Entscheidungen weit abgeschlagen, da es weder Hilfs- noch Förderprogramme in dieser Zeit gab. „[Bei diesen Kindern] hat die Pandemie sehr deutliche Auswirkungen, da viele grundlegende Basisfertigkeiten des Lesens, Rechtschreibens oder Rechnens nicht vermittelt werden konnten, da kaum Unterricht stattgefunden hat.“

Die Corona-Pandemie war eine besondere Herausforderung für Kinder und Jugendliche mit Legasthenie und Dyskalkulie. Foto: Pixabay

Im Studium habe ich gemerkt, dass das Fachwissen deutlich wichtiger ist als die Rechtschreibung“

Der BVL blickt dennoch positiv auf die letzten Jahre zurück: „Das Thema Legasthenie und Dyskalkulie hat in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit bekommen. Das hilft Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie sehr, weil damit mehr Verständnis für ihre Beeinträchtigungen gezeigt wird. Insbesondere in der Ausbildung und im Studium hat sich die Situation deutlich verbessert, weil Ausbilder, Dozenten und Prüfungsausschüsse wissen, dass sie den Auszubildenden oder Studierenden einen Nachteilsausgleich gewähren müssen, wenn die medizinische Diagnose einer Legasthenie oder Dyskalkulie vorliegt.“

Melina studiert inzwischen Agrarwissenschaften in Kiel und macht sich dabei ziemlich gut. „Im Studium habe ich gemerkt, dass das Fachwissen deutlich wichtiger ist als die Rechtschreibung. In den vielen mündlichen Prüfungen hatte ich keine Nachteile. Die zu leistenden Hausarbeiten habe ich am PC mit Rechtschreibprogramm geschrieben und zur Sicherheit nochmals vor der Abgabe Korrektur lesen lassen. Da viele Arbeiten am PC mit Rechtschreibprogramm geleistet werden, fühle ich mich kaum noch eingeschränkt“, erläutert die 27-Jährige.

Trotz aller Schwierigkeiten schaffte Melina ein gutes Abitur und konnte ihre Leidenschaft für die Naturwissenschaften in ihrem Studium vertiefen: „Meinen Bachelor-Abschluss habe ich bereits geschafft und schreibe gerade meine Masterarbeit.“

Vorlese- und Spracherkennungssoftware können eine große Hilfe für Menschen mit Legasthenie sein. Foto: Pixabay

Bei der Legasthenie helfen heute laut Melina technische Hilfsmittel wie Vorlese- und Spracherkennungssoftware. „So kann man sich sehr gut auf die Inhalte konzentrieren und genauso schnell arbeiten wie andere.“ Allerdings merkt sie auch an, das Legastheniker, die sehr viele Fehler machen, mit diesen Programmen auch ihre Probleme haben, da die Rechtschreibkorrektur alles markiert und viele Korrekturvorschläge macht, die die Betroffenen oftmals verwirren und „keine wirkliche Hilfe“ sind.

Der 30. September ist der Tag der Legasthenie und Dyskalkulie.

Informationen finden Betroffene hier: Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.

Andrea Marie Eisele

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